polinomics: Sehr geehrter Herr Hirrlinger, Alt-Bundespräsident Roman
Herzog warnte angesichts einer außerplanmäßigen
Rentenerhöhung Anfang des Jahres vor der „Rentner-
Demokratie“. Rentner, so seine Meinung, hätten einen
zu großen Einfluss in Deutschland. Meinhard Miegel, Chef des
Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft sprach sogar
von der Altenrepublik. Fakt ist, Deutschland wird immer
älter. Wie steht der VdK zu solchen Aussagen?
VdK-Päsident Hirrlinger:
Mich haben die Äußerungen des Alt-Bundespräsidenten verwundert und überrascht. Hier wird ein Generationenkonflikt geschürt, den es in der Wirklichkeit nicht gibt. Ältere unterstützen bekanntlich in großem Maße ihre Kinder und Enkelkinder. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass die außerplanmäßige Rentenerhöhung mehr als überfällig war. Rentnerinnen und Rentner sind in den vergangenen Jahren mit einer Vielzahl von kumulativen Belastungen durch Renten-, Gesundheits- und Pflegereform einseitig zur Kasse gebeten worden. Die Gefahr der wachsenden Armutsgefährdung dürfte also auch der Bundesregierung nicht verborgen geblieben sein. Hinzu kommt, dass die Rentner immer noch darauf warten, angemessen am wirtschaftlichen Aufschwung beteiligt zu werden. Die Rentenanpassung 2008 und die damit verbundene Aussetzung des Riesterfaktors kann also nur ein erster Schritt sein, dem hoffentlich weitere folgen werden.
polinomics:
Die aktuelle Rentenanpassung beträgt 1,1 Prozent. Die
Teuerungsrate liegt in Deutschland jedoch bei über 3 Prozent. Machen solch geringe Rentenanpassungen denn überhaupt Sinn?
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Foto:
VdK Hirrlinger: "2,5
Millionen Kinder leben in Armut, über drei Millionen
Rentner sind armutsge- fährdet. Das sind alar-
mierende Zahlen und Entwicklungen, die ein schnelles
Handeln erfordern." |
VdK-Präsident Hirrlinger: Diese
Renten-
anpassung ist wie gesagt nur ein erster
Schritt, wenn man an die drei Nullrunden
2004 bis 2006 und die Minirentenan-
passung 2007 von 0,54 Prozent denkt.
Die Bundesregierung hat jetzt zwar für
zwei Jahre den Riesterfaktor außer Kraft
gesetzt. Sie will aber diese Kürzungen
2012 und 2013 nachholen. Das darf nicht
geschehen. Der Riesterkürzungsfaktor
von 0,6 Prozentpunkten muss dauerhaft
ausgesetzt werden, denn er kürzt die
Renten jedes Jahr neu. Die Rentner wollen
und müssen am wirtschaftlichen Auf-
schwung beteiligt werden. Insofern ist es
jetzt an der Bundesregierung, die
Weichen entsprechend zu stellen.
polinomics:
Immer wieder hört man, dass es den jetzigen Rentnern so gut
gehe, wie nie zuvor. Trotzdem warnt der VdK vor der Altersarmut. Wie passt das
zusammen?
VdK-Präsident Hirrlinger: Es gibt Rentner, denen es gut geht und Rentner, die nur eine Durchschnittsrente von unter
1.000 Euro haben, Frauen sogar nur um 500 Euro. Das ist die Mehrheit und nicht die sogenannten reichen Rentner auf Mallorca. Arbeitslosigkeit und sinkende Beschäftigungs-
möglichkeiten befördern Armut. Aufgrund unterbrochener Erwerbsbiographien, Niedriglöhnen und Arbeitslosigkeit zahlen immer mehr Menschen immer weniger an Beiträgen in die Rentenversicherung und bekommen dann am Ende auch weniger Rente. Die Armutsgefährdung für künftige Rentner wird also steigen. Zudem sind die Renteneintrittsgrenzen angehoben und der Zugang zur Erwerbsminderungsrente verschärft worden. Betroffene müssen also hohe Abschläge in Kauf nehmen, wenn sie mehr oder minder zwangsweise so früh wie möglich in Rente gehen wollen und müssen. Die Abschläge schmälern die Rente ebenso wie die Inflation. Der
Kaufkraft- verlust steigt und kann nicht ausgeglichen werden. Laut einer Untersuchung des Deutschen Instituts für
Wirtschafts- forschung (DIW) sind 18 Prozent der Bevölkerung
armuts- gefährdet. Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung verweist darauf, dass jeder achte Bürger in Armut lebt. Besonders gefährdet sind Arbeitslose,
Alleiner- ziehende und Geringverdiener. Wer kein oder nur ein kleines Einkommen hat, der wird auch später kaum Rente haben. Mit der bundesweiten VdK-Kampagne „Aktion gegen Armut“
(www.aktion-gegen-armut.de)
wollen wir die Politik für die wachsende Armut in der Bevölkerung sensibilisieren und zum Handeln veranlassen. 2,5 Millionen Kinder leben in Armut, über drei Millionen Rentner sind armutsgefährdet. Das sind alarmierende Zahlen und Entwicklungen, die ein schnelles Handeln erfordern.
polinomics: In knapp einem Jahr sind Bundestagswahlen. Die Parteien
formieren sich langsam für den Wahlkampf. Welche Punkte müssen nach Ihrer Ansicht unbedingt auf der Agenda der
Parteien stehen?
VdK-Präsident Hirrlinger:
In der Rentenpolitik sind dies der Riester-Faktor, der Nachhaltigkeitsfaktor und der
Nachhol- faktor. Sie dämpfen die Rentenanpassungen und müssen gestrichen werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Renten immer weiter Richtung Grundsicherungsniveau driften. Alles, was man heute kürzt, fehlt auch den künftigen Rentnergenerationen. Die aktuellen Rentenerhöhungen reichen nicht aus, um die Inflation von über drei Prozent
auszu- gleichen. Die Preise für Lebensmittel und Energie sind stark gestiegen und belasten vor allem kleine Haushaltseinkommen stark.
In der Gesundheitspolitik bleibt zu hoffen, dass der Gesund-
heitsfonds gekippt wird. Mit ihm droht den Versicherten ein
einseitiger Zusatzbeitrag, den Kassen erheben können, wenn sie
mit dem aus dem Fonds zugewiesenen Einheitsbeitrag nicht
auskommen. Von diesem müssen alle Einkommen bis 800 Euro befreit
werden. Sie werden überdurchschnittlich belastet, denn der
Beitrag beträgt bis zu einem Prozent des Einkommens, aber
mindestens acht Euro.
Zudem muss die Mehrwertsteuer auf Arzneimittel endlich gesenkt werden. In 23 von 27 europäischen Staaten ist hier keine Steuer fällig. Nur in Deutschland müssen Menschen, die auf Arzneien angewiesen sind wie auf das täglich Brot, 19 Prozent zahlen, während für Lebensmittel nur sieben Prozent fällig sind. Der VdK hat im vergangenen Jahr 2,3 Millionen Unterschriften zur Senkung der Mehrwertsteuer
dem Bundeskanzleramt übergeben. Doch Bundeskanzlerin Merkel und Bundesfinanzminister Steinbrück zögern immer noch, dieser quasi Volksabstimmung Taten folgen zu lassen.
In der Pflegeversicherung ist die nachhaltige Finanzierung nach wie vor nicht gelöst. Hier wurden ausgerechnet die Rentner, die eh schon besonders unter geringen Rentenanpassungen und sinkender Kaufkraft zu leiden haben, einseitig mit der Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrags auf 1,95 Prozent belastet. Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingegen wurden entlastet. Auch die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs steht weiterhin an. Hier müssen Demenzkranke ohne Behandlungspflegebedarf aber mit entsprechendem Bedarf an Betreuung einbezogen werden.
Es gibt also noch eine Vielzahl an Hausaufgaben, die die Bundesregierung in der Sozialpolitik machen muss. Die Wählerinnen und Wähler haben nicht vergessen, was ihnen bereits zugemutet wurde. Sie wollen ihren Sozialstaat erhalten sehen. Es ist an der Politik, glaubwürdig zu vermitteln, wie dieses sozial gerecht geschehen soll. Zu befürchten ist, dass der Politik die Wählerinnen und Wähler weglaufen, weil sie ihr Vertrauen verlieren. Damit würde unsere Demokratie gefährdet. Das aber darf nicht geschehen. Der Sozialstaat darf nicht kaputt gespart werden.
polinomics:
Herr
Hirrlinger, herzlichen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Thomas Sommer
Zur Person:
Walter
Hirrlinger (geb. 1926 in Tübingen) absolvierte
nach
der Schule eine kaufmännische Ausbildung und
arbeitete als
Journalist und Schriftsteller bevor er in den
1950er-Jahren
hauptamtlich für den VdK arbeitete. In der Großen
Koalition (CDU und SPD) unter Ministerpräsident Hans
Filbinger (CDU) war der
Sozialdemokrat Hirrlinger von 1968
bis 1972 Arbeits- und
Sozialminister des Landes Baden-
Württemberg. Seit 1990 ist er Präsident
des Sozialverbandes
VdK Deutschland. Das
Nachrichtenmagazin Der Spiegel
bezeichnet Hirrlinger als "mächtigsten
Renten Lobbyisten"
des Landes.
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