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Dr. HANS-GERT PÖTTERING IM INTERVIEW
„Frieden,
Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit“
Dr. Hans-Gert Pöttering ist der einzige Abgeordnete, der seit der
ersten Direktwahl 1979 ohne Unterbrechung dem Europäischen Parlament
angehört. Nach 35 Jahren endet nun sein Mandat am 1. Juli 2014. Im
polinomics-Interview blickt Pöttering auf
seine Zeit im Europaparlament zurück.
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Foto: Dr. Hans-Gert Pöttering
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polinomics: Sehr
geehrter Herr Dr. Pöttering, Sie sind der einzige
Europaparlamentarier, der seit der ersten Direktwahl 1979
durchgängig gewählt worden ist. In diesem Jahr scheiden Sie aus
dem Europaparlament aus. Wenn Ihnen damals jemand gesagt hätte,
dass Sie insgesamt 35 Jahre Europaparlamentarier sein werden,
was hätten Sie ihm geantwortet?
Dr. Pöttering:
Durch die entsetzlichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wurde
mir die Möglichkeit genommen, meinen Vater kennenzulernen,
welcher in den letzten Wochen dieses schrecklichen Krieges
gefallen war. Ich bin daher in dem Willen und Bestreben
aufgewachsen, auf einem friedliebenden Kontinent zu leben, auf
dem die europäischen Völker nie wieder Krieg gegeneinander
führen. Dieses ist auch der Kern der Europäischen Idee und der
heutigen Europäischen Union. Als ich als Jugendlicher bei einem
Besuch in Berlin vor der Mauer stand, welche zu dieser Zeit
nicht nur Deutschland, sondern auch ganz Europa teilte, wusste
ich, dass ich die europäische Politik mitgestalten will, um so
den Frieden auf unserem Kontinent und die Aussöhnung der
europäischen Völker voranzutreiben und zu stärken. Dass die
Menschen in meiner niedersächsischen Heimat mich seit 1979 immer
wieder als ihren Volksvertreter in das Europäische Parlament
wählen würden, konnte ich damals natürlich noch nicht ahnen -
ebenso wenig, dass ich von 1999 bis 2007 die Geschicke der
stärksten Fraktion im Europäischen Parlament, der Fraktion der
Europäischen Volkspartei und Europäischer Demokraten (EVP-ED),
als deren Vorsitzender leiten und von 2007 bis 2009 Präsident
des Europäischen Parlaments sein würde. All dies hätte ich mir
im Jahre 1979, als ich als jüngster Abgeordneter in das erste
direkt gewählte Europäische Parlament einzog, nicht zu wünschen
vermocht.
polinomics:
Was
waren für Sie persönlich die größten Ereignisse, die Sie als
Europaparlamentarier miterleben und gestalten durften?
 | Foto:
Dr. Hans-Gert
Pöttering
Dr. Pöttering
"Als ich als Jugendlicher bei einem Besuch in
Berlin vor der Mauer stand, welche zu dieser Zeit nicht
nur Deutschland, sondern auch ganz Europa teilte, wusste
ich, dass ich die europäische Politik mitgestalten will,
um so den Frieden auf unserem Kontinent und die
Aussöhnung der europäischen Völker voranzutreiben und zu
stärken." |
Dr.
Pöttering:
Das Europäische Parlament
hat in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung und Einfluss
gewonnen: es ist heute gemeinsam mit dem Ministerrat
gleichberechtigter Mitgesetzgeber in nahezu allen Bereichen der
europäischen Gesetzgebung. In meinen verschiedenen
Ämtern habe
ich dazu beitragen können, unser Mitspracherecht gegenüber den
anderen Institutionen entscheidend zu stärken. Insbesondere die
Kontrollrechte gegenüber der EU-Kommission waren ein
wichtiger
Schritt zu mehr Demokratie. Als Präsident des Europäischen
Parlaments habe ich zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel
als Präsidentin des Europäischen Rates und José Manuel
Durão Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, die
„Berliner Erklärung“ vom 25. März 2007 unterzeichnet, die zum Vertrag von
Lissabon führte. Am 12. Dezember 2007 war ich
Mitunterzeichner der „Charta der Grundrechte“ der Europäischen
Union, die mit dem Vertrag von Lissabon rechtswirksam wurde.
Darin wurde erstmals die Grundlage unserer Wertegemeinschaft verbindlich in Worte gefasst.
Zu einem der freudigsten
Ereignisse in den letzten 35 Jahren zähle ich aber die Deutsche
Einheit am 3. Oktober 1990, die ohne die mutigen Menschen in
unseren östlichen Nachbarländern nicht möglich gewesen wäre und
die - anders als in manchen Hauptstädten Europas - hier im
Europäischen Parlament begrüßt und unterstützt wurde. Ebenso
schön war, dass wir am 1. Mai 2004 zehn Staaten aus Mittel- und
Osteuropa in der Europäischen Union willkommen heißen konnten,
darunter auch Estland, Lettland und Litauen, die von der
Sowjetunion besetzt waren. Die friedliche Überwindung der
Teilung Europas bleibt für mich das Wunder unserer Zeit. Eines der neueren Projekte, auf das ich mit Dankbarkeit blicke,
ist das »Haus der Europäischen Geschichte«, welches ich in
meiner Programmrede als Präsident des Europäischen Parlaments
anregte und seitdem begleite. Es wird gebaut und Ende 2015
eröffnet werden. Es soll ein Ort der Begegnung sein, welcher uns
Europäerinnen und Europäer, vor allem die junge Generation, an
die tragische Geschichte unseres Kontinents mit zwei Weltkriegen
im 20. Jahrhundert und die Errungenschaften der Europäischen
Union als Union des Friedens und der Freiheit erinnert.
polinomics:
Was werden Sie am meisten vermissen?
Dr. Pöttering:
Mehr als die Hälfte meines bisherigen Lebens bin ich Abgeordneter des
Europäischen Parlaments; der Einzige, der diesem „Hohen Hause“
seit seiner ersten Direktwahl ununterbrochen angehört. In dieser
Zeit bin ich mehr als 3.500 Kolleginnen und Kollegen begegnet.
Viele meiner langjährigen Weggefährten sind mir Vertraute und
gute Freunde geworden. Doch ich verspüre keine Wehmut, sondern
empfinde große Dankbarkeit, auf dreieinhalb Jahrzehnte erfüllte
Arbeit und bereichernde Begegnungen im Europäischen Parlament
zurückblicken zu können.
polinomics:
Und was am wenigsten?
Dr. Pöttering:
Dass ich seit 2010 als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)
zwischen meinem Wohnort Bad Iburg, Brüssel und Berlin pendele,
spiegelt für mich symbolisch meine Überzeugung wider, dass für
uns als Europäerinnen und Europäer die europäische und die
nationale politische Ebene zusammengehören und wir mit der
Verwurzelung in unserer jeweiligen Heimat unsere europäische
Identität bestimmen. Dennoch freue ich mich darauf, in Zukunft
mehr Zeit in meiner Heimat verbringen zu können, denn die
Verbindung zu meiner Heimat war immer die Grundlage für meine
Arbeit im Europäischen Parlament.
polinomics:
Was wünschen Sie
Europa für die Zukunft?
Dr. Pöttering:
Mit zunehmender Erfahrung im politischen Alltag habe ich die historische
Leistung der Gründerväter der Europäischen Union wie Robert
Schuman, Alcide de Gasperi oder Konrad Adenauer, und ihr
Engagement für die Einigung Europas immer mehr zu schätzen
gelernt. Dass unsere einstigen Erzfeinde die Versöhnung mit
Deutschland gesucht haben, entspricht großer Menschlichkeit,
zeigt Mut sowie den tiefen Glauben an den Frieden und die
Überzeugung, dass Europa nur gemeinsam eine gute Zukunft hat.
Eine EU mit 28 Mitgliedstaaten, die sich auf der Grundlage
gemeinsamer Werte zusammengeschlossen haben, ist eine
Errungenschaft, von der man noch vor wenigen Jahrzehnten nicht
zu träumen gewagt hatte. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten
können in der Europäischen Union Generationen heranwachsen, die
Dank der Europäischen Einigung keinem Krieg zwischen ihren
Staaten ausgesetzt sind. Heute sind über 500 Millionen
Bürgerinnen und Bürger durch das weltweit einzigartige und
friedliche Einigungswerk der Europäischen Union verbunden. Die
aktuelle Situation in der Ukraine zeigt uns auf erschreckende
Weise, wie bedeutsam Frieden, Freiheit und Demokratie sind und
dass wir diese Werte nicht als Selbstverständlichkeit hinnehmen
dürfen. Wie alles von Menschen Geschaffene bleibt auch die
Europäische Union stets gefährdet, deshalb ist es unsere
Aufgabe, die EU ständig weiterzuentwickeln und der nächsten
Generation die Bedeutung und den Wert zu vermitteln.
polinomics:
Herr Dr. Pöttering, vielen Dank für
das Gespräch.
Die Fragen stellte Thomas Sommer
Zur Person:
Dr. Hans-Gert Pöttering (geb. 15. September 1945
in Bersenbrück/ Niedersachsen) war
von 1974 bis 1980 europäischer Sprecher der
Jungen Union Niedersachsens und anschließend
(von 1981 bis 1991) Landesvorsitzender der
Europa-Union Niedersachsens. Pöttering ist der einzige
Abgeordnete, der seit der ersten Direktwahl
1979 ohne Unterbrechung dem Europäischen
Parlament angehört. In führenden Positionen,
etwa als Fraktionsvorsitzender der Europäischen
Volkspartei (1999 bis 2007) und als Parlamentspräsident
(2007 bis 2009), hat er die Entwicklung des
obersten europäischen Gesetzgebungsorgans und der Europäischen
Union begleitet und mitgestaltet. Nach
35 Jahren endet sein Mandat am 1. Juli 2014. Pöttering
studierte Rechtswissenschaften, Politik und Geschichte
an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität
Bonn, der Universität Genf und am Institut des Hautes
Études Internationales in Genf.
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Bisher sind folgende Interviews bei polinomics
erschienen:
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Katrin Göring-Eckardt
"Freiheit war doch mehr als Reisefreiheit"
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Europa möchte endlich Taten sehen
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